Kernbotschaften
Kernbotschaften
I. Nach einem Jahr „Coronavirus“ zeigt die Empirie, bezogen auf Migration und Integration: Die Auswirkungen des COVID-19-Virus haben sich nicht nur auf die Möglichkeiten des Reisens, sondern auch auf alle zentralen Bereiche der migrationsinduzierten, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Integration in Deutschland und Europa ausgewirkt, das heißt auf den Zugang zu Gesundheit, zum Wohnen, zur Bildung und zur Arbeit. Auch mehren sich Hinweise auf eine Zunahme von Diskriminierung und Rassismus. All dies kann Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt zeitigen, die in der vorliegenden Studie in Form von Szenarien ausgelotet wurden.
- Szenario 1: „Die Exklusionsgesellschaft: Germans First“: Eine zusehends weniger solidarische, sicherheitsfixierte und schließlich rassistisch-exkludierende Gesellschaft verhindert Migration verhindert und setzt Assimilation an die Stelle von Integration und Inklusion – eine Gesellschaft, die Segregation in Gesundheit, Wohnen und Arbeit in Kauf nimmt.
- Szenario 2: „Die utilitaristische Gesellschaft: Deutschlands neue Gastarbeiter:innen“: Entsprechend dem fortbestehenden Bedarf der deutschen Wirtschaft an überwiegend temporär angeworbenen Arbeitskräften (den „neuen Gastarbeiter:innen“), hält die Migrationspolitik selektiv nach qualifizierten, gesunden und jungen Migrant:innen Ausschau, selbst bei der humanitären Migration wird nach „erwünschten Arbeitskräften“ Ausschau gehalten. Integration ist zeitlich befristet, berufsspezifisch organisiert bzw. an regelkonformem Verhalten orientiert.
- Szenario 3: „Die teilhabeorientierte Gesellschaft: Stärker als Viren“: eine teilhabeorientierte Gesellschaft, die von der Lernerfahrung der COVID-19-Pandemie (Stichwort: „Systemrelevanz“) ausgehend den Beitrag aller zu allen Teilbereichen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens wertschätzt, die lokale Ebene gesellschaftlich wie politisch stärker in Wert setzt und somit auch die politische Inklusion vorantreibt.
II. Basierend auf diesen Zukunftsszenarien und ersten empirischen Tendenzen der aktuellen Entwicklung lassen sich die folgenden Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ableiten:1
- Mobilität muss auch in Krisenzeiten verlässlich gestaltet werden. Grenzschließungen führen zu Unsicherheiten und zu prekären Lebensbedingungen, insbesondere für gestrandete Migrant:innen und Geflüchtete. Humanitäre Aufnahmeprogramme und Familienzusammenführungen sollten schnell wieder aufgenommen und die krisenbedingt nicht erfüllten Kontingente staatlichen Resettlements auf das Jahr 2021 übertragen werden.
- Bezogen auf den Zugang zur Gesundheit hat die Pandemie bereits bestehende migrationsspezifische Barrieren verstärkt. Diese betreffen v.a. vulnerable Gruppen wie Menschen mit Behinderung und chronischen Krankheiten, darunter Frauen*2 noch einmal in besonderem Maße. Insbesondere die Meldepflicht öffentlicher Einrichtungen an Ausländerbehörden erschwert den Zugang zu Gesundheit. Schutzmaßnahmen wie die Versorgung mit Masken und Impfstoffen gerade für besonders Gefährdete, darunter Geflüchtete und Migrant:innen, gilt es zu fördern. Strukturell ist zu überprüfen, wie die Gesundheitskarte möglichst flächendeckend eingeführt werden kann. Der Zugang zu psychologischen und psychiatrischen gesundheitlichen Diensten sollte grundsätzlich, besonders aber im Zusammenhang mit der aktuellen Krise, vereinfacht und verstärkt werden.
- Sammelunterkünfte, so zeigte sich im Verlauf der beiden bisherigen Lockdowns, sind besonders ungeeignet, um Infektionsschutz und den Zugang zu Hygienemaßnahmen zu gewährleisten – das aber ist das Minimum dessen, was der Staat zum Gesundheitsschutz beizutragen hat. Wo immer möglich, ist die Unterbringung in ansteckungsgefährdenden Gemeinschaftsunterkünften daher zu entzerren, besser noch: zu dezentralisieren. Grundsätzlich können Anti-Diskriminierungsmaßnahmen dazu beitragen, Migrant:innen und Geflüchtete beim Zugang zu einem weiter zu fördernden Wohnungsmarkt besser zu unterstützen.
- Auch der Zugang zu Schulbildung (für alle sozial Benachteiligten) und zu Sprach- und Integrationskursen (insbesondere für Eingewanderte und ihre direkten Nachkommen) erwies sich infolge von Home-Schooling als schwierig, zumal es vielfach an WLAN und/oder an Endgeräten fehlte, die Unterstützung durch Ehrenamtliche zurückging oder gar ausblieb. Mangelnde Sprachkenntnisse oder unterschiedliche Zugangsvoraussetzungen der Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Migrationserfahrung erschwerten es vielfach, Kinder im Online-Unterricht zu unterstützen. Um dauerhafte Schäden von ohnehin im Bildungssystem benachteiligten Gruppen abzuwenden, sollte der Zugang zur Digitalisierung vereinfacht, entbürokratisiert und das Engagement Ehrenamtlicher weiter gefördert werden. Schulische Digitalisierung hängt nicht nur an der Zurverfügungstellung finanzieller Mittel, sondern auch an ihrem Abruf. Digitale Bildung in Schulen bedarf nicht nur finanzieller Mittel, sondern auch diversitätssensibler Aus- und Fortbildungen – und schließlich auch eines entsprechenden Engagements der Schulen und ihrer Lehrer:innen, der Unterstützung durch Mentor:innen und Tutor:innen.
- Analog machten unsichere Geschäftsprognosen, eingeschränkte Bedingungen für Praktika und begrenzte Beratungsstrukturen sowie Ausbildungsmessen den Zugang zu Ausbildungsplätzen schwierig. Gilt dies prinzipiell für alle Ausbildungswilligen, so trifft es Personen mit Fluchtgeschichte, die meist über Praktika einen Zugang zum deutschen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt erhalten, in besonderem Maße. Programme und Projekte zur Förderung der Ausbildung, gerade mit Blick auf die dringend benötigten Zugänge in das duale Ausbildungssystem und die Qualifikationsanerkennungen sowie Weiterqualifizierungen darin, sind daher nötiger als je zuvor. Besonders die aufsuchende Beratung sollte unterstützt und auch für Betriebe verfügbar gemacht werden. Unternehmen und Handelskammern können dazu beitragen, über diese Chancen zu informieren und sie zu unterstützen, gerade bei Klein- und Mittelunternehmen, die nicht über eigene Kapazitäten zur Anwerbung verfügen oder vor den unvorhersehbaren wirtschaftlichen Konsequenzen der Pandemie zurückschrecken.
- Auf dem Arbeitsmarkt haben sich die Auswirkungen der Pandemie besonders deutlich gezeigt. Sie treffen tendenziell Arbeitnehmer:innen mit Migrationserfahrung und darunter v.a. jene mit Fluchterfahrung in verstärktem Maße, sind diese doch in besonders gefährdeten Berufen, in weniger festen Anstellungsverhältnissen und weniger für die Heimarbeit geeigneten Jobs tätig. Zugleich hat die Corona-Pandemie überdeutlich gemacht, dass Migrant:innen und Menschen mit Fluchtgeschichte besonders häufig in systemrelevanten Berufen wirken. Dennoch arbeiten sie vielfach unter Bedingungen, die – bezogen auf das Lohnniveau und potenzielle Ausbeutung – ungleicher Behandlung gegenüber Nicht-Migrierten unterliegen, und sie arbeiten in Bereichen, die potenziell diskriminierungsanfällig sind. Hier kann der Staat dafür sorgen, dass gesetzliche Instrumente und Förderungsmaßnahmen jenseits von gesetzlichen Regelungen gerechtere und sicherere Arbeitsbedingungen herstellen (entsprechend den neuen Regelungen für die Fleischindustrie) und dass etwa Anwerbeagenturen für Personal im Gesundheitsbereich einer strikten Zertifizierung unterliegen. Ebenso sind Qualifizierungsanerkennungen sowie Nachqualifikationsmaßnahmen zu vereinfachen und flankierende Integrationsmaßnahmen zu überdenken.
- Nicht zuletzt verdeutlichen die vorgestellten Szenarien, dass ein entschiedenes Vorgehen gegen Rassismus und Diskriminierung vonnöten ist. Die Suche nach „Sündenböcken“ für die Ausbreitung des Virus sowie für die verschlechterte wirtschaftliche Lage machte Nachkommen von Eingewanderten, Migrant:innen und Geflüchtete zur Zielscheibe. Es braucht neben einer reaktiven Arbeit auch mehr präventive, rassismuskritische Bildungsarbeit, die nicht nur für Schüler:innen und Student:innen im Rahmen der Curricula, sondern auch für Arbeitnehmer:innen in Betrieben, in Unterkünften, in Gesundheitseinrichtungen und auch in Behörden stattfinden sollte. Die vom Kabinettausschuss „zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“ unlängst beschlossenen 89 Einzelmaßnahmen bedürfen jetzt einer strategischen und schlagkräftigen Bündelung und Umsetzung.
1) Dabei sind wir uns jederzeit bewusst, dass Personen mit Migrations- und Fluchterfahrung eine sehr heterogene Gruppe sind, die von den einzelnen Maßnahmen in ganz unterschiedlichem Maße betroffen sein können. Dieser Differenzierung kann jedoch in der Kürze des Beitrags nicht immer Rechnung getragen werden.
2) Um auf den Konstruktionscharakter von ‚Geschlecht‘ hinzuweisen und möglichst alle Personen miteinzubeziehen, die sich als Frau definieren, definiert werden und/oder sich sichtbar gemacht sehen, verwenden wir das Gendersternchen (*) nach dem Wort ‚Frau‘. Dabei sind wir uns bewusst, dass diese Schreibweise diskriminierende Ausschlüsse nicht abschaffen kann und wir uns in einem Prozess der sprachlichen Sichtbarmachung von geschlechtlicher Vielfalt befinden. Siehe dazu auch https://www.ash-berlin.eu/fileadmin/Daten/Einrichtungen/Frauenbeauftragte/Geschlechtergerechte_Sprache_Hinweise_und_Empfehlungen_an_der_ASH_Berlin_April_2019.pdf